Die Geschichte von der kleinen Schneeflocke


Es war einmal eine kleine Schneeflocke. Die flog über das weite weiße Land. Sie und ihre Brüder und Schwestern flogen dahin mit dem kalten Wind. Und sie alle wirbelten auf und ab und hin und her, sodass sie jauchzten vor Glück, denn das war ihr Geschick von Natur aus. So tanzten sie von früh bis spät, zu einer langen schönen Musik, die nur Schneeflocken fähig sind zu hören.
Als es Abend wurde und unsere kleine Schneeflocke schon über den großen Teich, der gefroren still da lag, und über das weite Feld, welches zunehmend weiß von Schneeflocken besiedelt war, geflogen war, da wurde unsere Schneeflocke recht müde. Ihre kristallenen Arme, Beine und Flügel wurden ihr schwer und ihre Lider fielen ihr immer wieder zu, und wenn sie dann wieder wahrnahm, wo sie sich befand, erschrak sie, denn sie hatte gar nicht wahrgenommen, dass sie sich schon ein ganzes Stück weit bewegt hatte.

So war sie des Abends erschöpft und ließ sich an einem Ast eines Baumes nieder. Sie fühlte die harte kalte Rinde unter ihr, den nachgelassenen Wind, der nun nur noch um die spitze Krone der großen Tanne, wie unsere Schneeflocke erst am nächsten Morgen herausfand, säuselte. Und sie konnte die Lichter der nicht allzu weit entfernten Stadt wahrnehmen. Doch im Moment fand sie es viel schöner, die Sterne und deren Leuchten über der Welt zu betrachten. Und während sie noch daran dachte, dass es schön wäre, auch einmal leuchten zu können, wie nur die entferntesten Sterne fähig waren, schlief sie ein.

Am nächsten Morgen wurde sie unsanft von einem Zittern des Tannenbaumes geweckt. Nun war aber nicht der Baum daran schuld, dass der Ast, auf dem unsere kleine Schneeflocke saß, in unruhiges Auf und Ab kam, sondern ein pechschwarzer Rabe, der sich hatte niedergelassen. Zugegeben dieser hatte wohl eine Notlandung vollbringen müssen, da dieser an einem Muskelschwund litt, was bei Raben des höheren Alters zunehmen kann, wohingegen dieses Leiden durch einen Anstieg der Weisheit ausgeglichen wird. Oder es war eben der eisige Nordostwind gewesen, der diese Tage über das ganze Land wehte.

So putzte der Rabe seine zerzausten Federn und strich mit seinem spitzen Schnabel sein Federkleid glatt, damit es in den niedrigen Sonnenstrahlen, die ihren Weg über die Berggipfel hinunter ins Tal fanden, wunderschön glänzte. Und da wurde unsere kleine Schneeflocke neidisch, denn sie fand Gefallen daran, glänzen zu können.
Eben grade als der Rabe sich zum Abstoß aufrichtete und seine Flügel ausbreitete, sank der Ast durch das verlagerte Gewicht nach unten und die Schneeflocke begann, zur Seite zu gleiten. Doch zu spät! Der Rabe stieß sich hinauf in die kühnsten Lüfte und gleichzeitig fiel die Schneeflocke hinab in den Abgrund immer näher der Erde entgegen.
Und hui was für eine Geschwindigkeit sie doch erlangte, sodass sie zunächst vergaß, ihre Flügel auszubreiten, damit sie nicht hinabstürzte, sondern gleiten würde! Doch das war auch gar nicht nötig gewesen, denn der eisige Nordostwind blies gerade in diesem Moment. Und nach oben, höher und höher trug er sie, hinaus. Wie klar war die Sicht von da oben! Sie erkannte den Teich, dessen Oberfläche zu glitzern schien und das weißglühende schneebedeckte Feld.

Der Wind aber wehte an diesem Tage sehr lange, als ob es eine Ewigkeit wäre, den ganzen Tag lang. Und unserer Schneeflocke ging es spätnachmittags so schlecht, dass sie anfing zu weinen, denn das ständige hin und her und auf und ab vertrug auch sie nach so langer Zeit nicht mehr. Sie weinte bitterlichst und bat, nein flehte den Wind an, er möge doch endlich eine Pause einlegen oder sie irgendwo absetzen.

Und der Nordostwind der doch ein kaltes Herz hat, konnte bei diesem Bitten und Flehen nicht mehr zuhören und erbarmte sich und ließ unsere kleine Schneeflocke auf einer Anhöhe nahe eines im Tal gelegenen Dorfes nieder. Schließlich wurde es Abend und sie konnte den Himmel und seine Gestirne genießen, das Dorf war bekleidet im schönsten Weiß und Gold. Die Lichter aus den Fenstern erhellten die Umgebung und tauchten alles in gelbe-orangene, goldene Farben. Die Schneeflocke war wehmütig, dachte sie ja daran, auch einmal so schön glitzern und leuchten zu dürfen.
Und diese Nacht geschah etwas Sonderbares, denn die Sterne gewannen an Leuchtkraft und erstrahlten das Dunkel. Dort oben war jedoch diese Nacht noch ein Stern. Dieser erschien am hellsten, weiß sein Leuchten. Und ein leises Lüftchen kam auf und trug das Schneeflöckchen weiter hin zum erleuchteten Dorf. Immer näher…

Plötzlich stieß sie an eine harte, sehr glatte und zunächst sehr kalte Scheibe, sie war an einer Glasscheibe eines kleinen sehr warm erleuchteten Häuschens hängen geblieben. Nun aber, da sie sich nicht mehr loswinden konnte, die Kälte hatte sie übermannt, wusste sie, dass ihre Sekunden gezählt waren. Denn das Leuchten, welches durch die Scheibe drang, wärmte sie und gleichzeitig ließ die Wärme ihre Flügel schmelzen, so wie ihre Arme und Füße wurden immer nasser und sie schien sich gänzlich aufzulösen.

Aber dennoch hatte sie einen guten Blick nach innen. Dort war ein wunderschön geschmückter Weihnachtsbaum, seine Kerzenkleid erstrahlte das ganze Zimmer und nun auch unsere kleine Schneeflocke. Das ausgestrahlte Licht ließ sie glitzern und funkeln, schöner als der schönste Diamant. So schaute sie an sich herab und erblickte nun an sich ein Kleid voller schönster Farben. Daher viel ihr auch nicht einmal auf, dass sie sich aufzulösen begann und war einfach nur unglaublich glücklich, ihren Traum von einem eigenen Leuchten erfüllt zu bekommen.
Und jene Nacht war dieses Mal besonders hell, und grell erstrahlte unsere Schneeflocke noch ein letztes Mal und glitt langsam hinunter, bis sie sich ganz auflöste. Aber dennoch war sie eins in ihrer Welt und hörte zuletzt noch eine wundersame Musik, bevor diese ruhig wurde, ganz ruhig…

Matthias Budesheim

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